Mariana Yordanova ■ Stefanie Münster ■ Andreas Schweiger ■ Heinz Bernhardt ■ Ferdinand Ludwig
Viele Menschen haben bereits jetzt einen begrenzten Zugang zur Natur und bewegen sich vorwiegend in künstlich gestalteten Lebensräumen. Der Mangel an Naturnähe und die Sehnsucht nach grüner, lebendiger Umgebung wird in der Zukunft für sie noch spürbarer werden. Die fortschreitende Urbanisierung lässt sich jedoch kaum ändern. Geändert werden können die Lebensräume, die uns umgeben, um mehr Wohlbefinden und Gesundheit in unser tägliches Leben zu bringen.
Klimawandel und Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Corona- Pandemie als zentrale Herausforderungen unserer Zeit haben die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren stark verändert. Die Pandemie machte darüber hinaus qualitative Faktoren wie Mitarbeiterzufriedenheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz präsenter und schärfte unser Empfinden für sie. Es entstand das Bedürfnis nach neuen Büroraumkonzepten, die für mehr Wohlfühlatmosph.re sorgen, eine hohe Aufenthaltsqualität aufweisen und die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern fördern [2]. Gleichzeitig wird im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit nach Möglichkeiten gesucht, Büros umweltfreundlicher zu gestalten, da es für immer mehr Mitarbeiter von Bedeutung ist, welchen Stellenwert ihr Arbeitgeber dem Thema Nachhaltigkeit beimisst [4].
Die Natur in unserem Alltag
Mehr Natur in den Alltag bringen – daraus ist inzwischen ein weltweiter Trend geworden. In der Architektur spricht man oft von Biophilic Design – „Liebe zum Leben“, abgeleitet aus dem griechischen „bio“ (Leben) und „philia” (Liebe). Die Wirkung der Natur in unserem Alltag in messbaren Größen zu erfassen, ist nicht einfach. Eine Studie der Universität Michigan [1] hat untersucht, dass Pflanzen eine stresslindernde Wirkung haben, eine Art „nature pills“ (Natur-Tabletten) zum Einnehmen. Dies kann in der Geschäftswelt nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine ökonomische Perspektive haben. Eine Studie der Universität Wageningen [1], die in mehreren Unternehmen und Institutionen durchgeführt wurde, hat den Mehrwert von Pflanzen in Büror.umen untersucht und den Return of Investment ermittelt. Die Studie fand heraus, dass sich die Investition in Büroraum- Grün nach einem Jahr amortisiert und bereits ab dem zweiten Jahr Gewinne erwirtschaftet. Gemessen wurde der Profit an dem niedrigeren Krankenstand und der höheren Profitabilität der Mitarbeiter. In Räumen mit Pflanzen wurden die Menschen im Schnitt 1,6 Tage pro Jahr weniger krank, hatten ein positiveres Empfinden als diese in Räumen ohne Pflanzen und empfanden ihre Arbeitsumgebung attraktiver als Räume ohne Pflanzen. Eine weitere Studie der Universität Groningen [3] über begrünte Wände hat die Wirkung von lebendigen Pflanzen auf Schüler in Klassenräumen untersucht und deutet darauf hin, dass Pflanzen die Konzentrationsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit der Schüler verbessern können.
OfficeFarming – Natur und erlebbare Agrarlandschaft
Die Menschen am Arbeitsplatz mit dem Erleben der Natur direkt zu verbinden und die Raumbedingungen sowie das Wohlbefinden am Arbeitsplatz indirekt zu verbessern – das ist das Konzept von OfficeFarming. Pflanzen am Arbeitsplatz sind nichts Neues, doch essbare Pflanzen am Arbeitsplatz bringen eine neue Dimension der Wahrnehmung und des Erlebens mit sich. Das Zusammenleben mit unserer Nahrung, das Beobachten des Wachstumsprozesses, das Ernten, Pflegen und Wertschätzen der Pflanze waren während der Agrargesellschaft Teile unseres Alltags und verschwanden im Laufe der Industrialisierung. Die Agrargesellschaft wandelte sich in eine Industriegesellschaft. Der Mensch verlernte es, die Sprache der Natur zu verstehen.
![OfficeFarming im Büroalltag](https://static.wixstatic.com/media/dd7561_0a2e3bbf9d2e49daa4e0c8b314965f31~mv2.jpg/v1/fill/w_980,h_994,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_auto/dd7561_0a2e3bbf9d2e49daa4e0c8b314965f31~mv2.jpg)
Mit der OfficeFarming-Lösung (Bild 1) soll die Stimme der Natur wieder Anklang im Alltag finden – in einer zeitgemäßen, modernen, ansprechenden Art. An die Stelle passiver Präsenz und unverändertem Erscheinungsbild der klassischen Zimmerpflanze sollen Dynamik und Wachstum rücken. In optisch und dem Bürogrundriss gemäßem Design werden in spezifisch designten Modulen auf mehreren Etagen Salate, Kräuter und Microgreens eingesetzt.
![Ansicht der OfficeFarming Lösung im Büroraum](https://static.wixstatic.com/media/dd7561_af757d960395446c874d7a98d51d80bd~mv2.jpg/v1/fill/w_980,h_1064,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_auto/dd7561_af757d960395446c874d7a98d51d80bd~mv2.jpg)
Eine innovative technische Lösung (Bild 2) im Hintergrund, angesteuert durch einen smarten Algorithmus, sorgt für optimale Lebensbedingungen für die Pflanzen.
Die OfficeFarming Module (OFM) stellen eine in sich funktionell geschlossene, autarke Struktur dar, die sich dem Anwender offen präsentiert, keine Hülle und somit keine Barriere aufweist – sowohl physischer als auch psychologischer Art. Diese Darbietungsform soll dazu anregen, Salate und Kräuter spontan zu entnehmen, einen Mittagssalat mit Kollegen zusammen zu kreieren, an kalten Wintertagen einen frischen Kräutertee zu machen, in heißen Sommermonaten mit frischer Minze das Wasser zu „flavorisieren“ – natürliche Frische zu genießen. Entwickelt wird die Lösung durch ein interdisziplinäres Team, besetzt mit Fachleuten aus den Bereichen Architektur, Landschaftsarchitektur, Agrarwissenschaft, Industriedesign, Softwareentwicklung und Nachrichtentechnik. Forschungspartner des Vorhabens ist die Technische Universität München, vertreten durch die Professur für Green Technologies in Landscape Architecture von Prof. Dr.-Ing. Ferdinand Ludwig und dem Lehrstuhl für Agrarsystemtechnik von Prof. Dr. Heinz Bernhardt. Industriepartner sind die Mediabiose GmbH und das Ingenieurbüro Armin Pelka. Die Förderung des Vorhabens erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages. Die Projektträgerschaft erfolgt über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) im Rahmen des Programms zur Innovationsförderung.
![OfficeFarming für mehr Nachhaltigkeit](https://static.wixstatic.com/media/dd7561_23a691b4db3f493b87ca50394a5ce4b8~mv2.jpg/v1/fill/w_980,h_980,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_auto/dd7561_23a691b4db3f493b87ca50394a5ce4b8~mv2.jpg)
Design Thinking und agile Produktentwicklung
Um den neuen Umgang mit Pflanzen zu verifizieren und daraus Rückschlüsse auf Produktfunktionalitäten abzuleiten, erfolgt die Produktentwicklung der Office Farmen nach der Design Thinking Methode (Bild 3). Bei dieser Methode stehen die Bedürfnisse der Nutzer im Mittelpunkt und werden in wiederholenden Feedbackschleifen berücksichtigt. Lösungsansätze, Funktionalitäten, Ideen werden so früh wie möglich in Form von Labormustern und Prototypen für potentielle Anwender kommunizierbar gemacht.
Learning Partnership
Eine Learning Partnership wurde mit der Goldbeck Süd GmbH gestartet, um erste Anwender in der Pilotphase anzubinden und deren Feedback in die weiteren Entwicklungsschritte einfließen zu lassen. Dabei wurden am neuen Hauptstandort der Regionalgesellschaft Süd in Neuried in unterschiedlichen Raum-Setups Muster der OFM aufgestellt, mit Pflanzen bestückt und getestet. Dieses Setup war sowohl für OfficeFarming als auch für die Fa. Goldbeck von besonderer Bedeutung, da sie Erfahrungen mit einer zukunftsweisenden Gebäudetechnologie gebracht hat. Das Gebäude der Firmenzentrale wurde nach den modernsten Gebäudestandards, sowohl räumlicher als auch technischer Natur, gebaut. Es ist als Showroom konzipiert, um zu zeigen, was heute im modernen Bürobau möglich ist. Die Mitarbeiter standen bei der Planung im Fokus: Für eine effiziente Zusammenarbeit wurde ein zukunftsweisendes Umfeld mit modernen Arbeitsräumen geschaffen, die um innovative Meeting-, Besprechungs- und Begegnungsräume gruppiert sind. Auch die Nachhaltigkeit hat einen hohen Stellenwert und wurde in das Gesamtkonzept des Gebäudeentwurfs integriert. Highlights hier sind beispielsweise das Biodiversitätsdach, der innovative Vogelschutz an den Glasfassaden und die vielfältige Außenanlagengestaltung. Die Platzierung der OFM-Muster stärkte die Präsenz des Themas Nachhaltigkeit und brachte neue Erlebnisse mit sich: die Pflanzen wachsen zu sehen, jeden Tag ein anderes Bild wahrzunehmen, besondere Sorten mit verschiedenen Geschmacksrichtungen auszuprobieren und sie mit den eigenen Händen zu ernten.
OfficeFarming – nachhaltig, mitarbeiterfreundlich, naturnah
Über mehrere Pflanzen-Zyklen wurden unterschiedliche Produktmerkmale getestet, telemetrisch erfasst und die Kapazität einer Farm und das Wohlbefinden der Nutzer untersucht. Hierbei wurden OFM-Muster in verschiedene Büroraumtypologien innerhalb des Learning-Partnership integriert:
– in einem abgeschlossenen Büroraum als optischer Raumtrenner zwischen den Arbeitsplätzen,
– in einer gemeinschaftlich genutzten Kommunikationszone mit Küchennutzung.
Innerhalb von einzelnen Gesprächen mit den zahlreichen Nutzern am Standort wurden die Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden, die Sensitivität der Wahrnehmung und die Details des Pflanzenverzehrs untersucht und anschließend innerhalb einer qualitativen Umfrage evaluiert. Ein iteratives Screening verschiedener Pflanzenarten wurde durchgeführt. Dabei stand, getreu der Design Thinking Methode, der Nutzer im Mittelpunkt. Zunächst fand eine Vorauswahl an Pflanzen statt, die als geeignet für den Einsatz in einem Büroraum eingestuft wurden. Aus diesen vorausgewählten Sorten wurden systematisch Pflanzen extern ausgesät und als Jungpflanzen in die Module eingesetzt. Dabei kristallisierten sich anhand der Häufigkeit des Konsums verschiedene Pflücksalate, Kräuter, Blattgemüse und Microgreens als favorisierte Pflanzensorten heraus. Die Befragten sahen in den Modulen „einen sehr hohen Mehrwert“. Im Einzelnen wurden die gesundheitliche und vor allem die klimafreundliche Komponente der OFM hervorgehoben, gefolgt von ihren ästhetischen und sozialinteraktiven Wirkungen. Umfrageteilnehmer waren sich auch darüber einig, dass sie bevorzugt einen Salat aus dem OFM anstatt aus dem Supermarkt essen würden. Als Begründung für ihre Präferenz nannten sie die Transparenz der Erzeugung – sie konnten den kompletten Wachstumsprozess des Salates miterleben und beobachten, dass er nachweislich ohne Pestizide aufgewachsen ist. Auch die lokale Nähe spielte in ihrer Aussage eine große Rolle. Positiv überrascht waren die Befragten von dem effizienten Wachstumszyklus des Systems – anstatt der zwei bis drei Salat-Ernten in der freien Landwirtschaft stehen in den OFM Salate alle zwei Wochen zur Ernte bereit.
Das Merkmal Nachhaltigkeit wurde von den Befragten als sehr bewusst und positiv wahrgenommen. Besonders hervorgehoben wurde der Wegfall der Transportwege durch die lokale Erzeugung und die damit einhergehende CO2-Einsparung. Insgesamt gaben die Nutzer an, nicht nur optisch und ernährungstechnisch von den Modulen, sondern vor allem auch durch die Veränderung der Atmosphäre und den Wohlfühlcharakter zu profitieren. Der Austausch mit den OFM bot den Nutzern die Möglichkeit, ein Stück Umweltbewusstsein real zu erleben und mit ihrem eigenen Tun einen Beitrag dazu zu leisten. Die Verbundenheit zur Natur zeigte sich auch im intuitiv richtigen Agieren der Nutzer mit den OFM. Hier wurde den Testpersonen bewusst viel Freiraum gelassen. Im Vorfeld wurde Videomaterial bereitgestellt, wie die Pflanzen geerntet werden können. Die Videos wurden von den Befragten aber nicht wahrgenommen, sondern sie handelten instinktiv richtig. Die Gespräche mit den Befragten zeigten eine besondere Beziehung zu den Pflanzen. Fast in jedem Teilnehmer wurde „der Gärtner“ geweckt. Intrinsisch motiviert hat ein Großteil der Befragten die abgeernteten Pflanzen mit Wurzelballen mit nach Hause genommen, um sie dort wieder einzupflanzen. Davon abzuleiten war, dass die Pflanzen im eigenen Büro ein neues Verantwortungsgefühl erzeugt haben – dies war ein unerwarteter und ungeplanter Teil der Studie. Sie hat jedoch etwas Wichtiges belegt: Der Mensch hat seine enge Beziehung zur Natur nicht verloren. Es brauchte nur einen kleinen Impuls, um diese neu zu entfachen.
Der Mensch verfügt über eine angeborene Zuneigung zur Natur, das ist das Ergebnis evolutionärer Entwicklung. Im Zuge der Industrialisierung hat sich der Mensch jedoch immer mehr von der natürlichen Umwelt distanziert. Dieser Trend wird sich noch mehr verstärken. Bis zum Jahr 2050 wird der Anteil der Weltbevölkerung, die in städtischen Gebieten leben, voraussichtlich auf 70 % ansteigen. Durch OfficeFarming können die Nutzer die Präsenz der Pflanzen und ihren Wachstumsprozess wahrnehmen und den Geschmack von frisch geerntetem Grün genießen. Der gesunde Snack trägt zur ausgewogenen Ernährung bei, sorgt für mehr Wohlbefinden am Arbeitsplatz und wertet die Büroräume auf. Auch die soziale Komponente der OFM ist entscheidend. Mit den Kollegen ins Gespräch kommen, einen Impuls für ein Teamevent oder ein gemeinsames Mittagessen auslösen – das sind die schwer messbaren, jedoch sehr wichtigen Komponenten, die uns dazu bringen, den Arbeitsplatz als attraktiv zu bezeichnen. Durch die OFM wird auch das Thema Nachhaltigkeit miterlebt und mitgestaltet. Die Naturnähe und der Umgang mit Pflanzen sorgen dabei für positive Emotionen. OfficeFarming wird für mehr Wohlbefinden und Gesundheit am Arbeitsplatz entwickelt und soll damit einen direkten Nutzen für die Anwender bringen. Aus einer Makro- Perspektive gesehen, ist OfficeFarming gleichzeitig ein Ansatz für einen nachhaltigen Umgang mit Naturressourcen, für Nahrungsmittelsicherheit und für die Versorgung mit frischen Lebensmitteln für die Bevölkerung von morgen.
Durch die Lösung von OfficeFarming kann ganzjährlich Nahrung in städtischen Bereichen produziert und auf lange Lieferketten verzichtet werden (Bild 4). Die Farmen können den Bedarf an Gemüse und Kräutern für lokale Gemeinden decken, landwirtschaftliche Flächen entlasten und für eine andere Nutzung, z. B. Getreideanbau, bereitstellen. Sie können zu einer lokalen Versorgung mit pflanzlichen Nahrungsmitteln beitragen. Der Anbau kann unabhängig von Naturkatastrophen und ungünstigen Wetterverhältnissen erfolgen und schwindenden Anbauflächen entgegenwirken.
![Die OFMs werden nach der Design Thinking Methode entwickelt.](https://static.wixstatic.com/media/dd7561_9deb06e315c6473eab86c7b1c5b1a14d~mv2.jpg/v1/fill/w_980,h_396,al_c,q_85,usm_0.66_1.00_0.01,enc_auto/dd7561_9deb06e315c6473eab86c7b1c5b1a14d~mv2.jpg)
Literatur
[1] Hunter, M. R.; Gillespie, B. W.; Chen S. Y.: Urban Nature Experiences Reduce Stress in the Context of Daily Life Based on Salivary Biomarkers (2019), https://www.frontiersin. org/articles/10.3389/fpsyg.2019.00722/full (Stand: 04.08.2023), https://doi.org/10.3389/fpsyg.2019.00722
[2] Leimann, E.: Gewerbeimmobilien: Ein neuer Boom (2023), https://hamburger-wirtschaft.de/schwerpunkt/gewerbeimmobilien- ein-neuer-boom/ (Stand: 04.08.2023)
[3] Menzel, C..; Reese, G.: Seeing nature from low to high levels: Mechanisms underlying the restorative effects of viewing nature images (2022), https://psyarxiv.com/e32vb/ (Stand: 04.08.2023), https://doi.org/10.31234/osf.io/e32vb
[4] Rottländer, I.; Schröder, L.: Klimafreundliche Unternehmen (2021), https://www.stepstone.de/ueber-stepstone/ press/ klimafreundliche-unternehmen/ (Stand: 04.08.2023)
[5] Wageningen University & Research: A plant a day keeps the doctor away (2019), https://www.wur.nl/en/newsarticle/ aplant- a-day-keeps-the-doctor-away.htm (Stand: 04.08.2023)